In den Dunkelheiten der Welt

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In den Dunkelheiten der Welt

Liebe Netzgemeinde,

heute ist Karfreitag. Dieser Tag hat seinen Namen von dem alten Wort Kara, es bedeutet Klage oder Trauer. An diesem Tag beklagen wir den Tod Jesu. Aber müssen wir nicht eigentlich den Tod Gottes beklagen?

Karfreitag ist nicht gerade ein Ruhmestag in der Menschheitsgeschichte. Da geschieht an Jesus das, was tagtäglich tausendfach geschieht an ungezählten Menschenkindern, die alle Gottes Ebenbildlichkeit auf dem Angesichte tragen. Da wird der beste Freund für 30 Silberlinge verraten und verkauft, der Bruderkuss wird zum Mördergruß. Barmherzigkeit wird durch die Gassen getrieben, aus „Hosianna“ wird „Kreuzige ihn“. Von Pontius zu Pilatus jagen sie ihn, und die Mächtigen dieser Welt waschen ihre Hände in Unschuld. Wir haben nichts gelernt seit jenem schwarzen Freitag, als Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht und nichts zu schaffen haben will mit diesem Jesus.

Und dann setzen sie dem Herzenskönig eine Krone auf, treiben ihm Dornen in den Schädel, machen ihn mit Spott und Hohn klein und sich selbst groß. Was tagtäglich tausendfach geschieht – und was Ihr auch schon getan habt. Sie legen ihn aufs Kreuz. Habt Ihr schon mal jemanden aufs Kreuz gelegt? Oder aufs Kreuz legen wollen?

Es gibt Regungen in unserem Herzen, die haben ein unerklärliches fürchterliches Bleiberecht. Wir haben sie nie eingeladen, aber sie sind immer da.

Jesus wird durch die Bosheit der Menschen aufs Kreuz gelegt. Durch die Bosheit – nein, wegen der Bosheit, aber das begreifen wir vielleicht erst übermorgen. Er erlebt tiefste Demütigung, schlimme Schmerzen und Todesangst, stirbt am Kreuz, hingerichtet wie ein Verbrecher, verlassen von den meisten Freunden, unschuldig und wehrlos und machtlos! Wo ist Gott da? Warum verhindert Gott das alles nicht?

Der Karfreitag zeigt, dass Gott unter seinem Gegenteil verborgen ist, und nur dort zu finden. Er ist nicht da, wo es schön und hell ist, sondern in den Dunkelheiten der Welt: im Leiden, in der Verachtung, im Verrat, in den Schmerzen, am Kreuz. Da, wo die Komödie vom schönen Leben in Wahrheit ein Trauerspiel ist. Gott ist gerade da, wo wir ihn nicht vermuten: in unserer Todesangst, in unserem Wahn – da wir meinen, wir wären Könige. Er ist da, wo wir den Geruch unseres Todes nicht loswerden, wo uns der Glaube an die Auferstehung fehlt. Er ist da, wo sich die Ereignisse über uns stürzen, wo wir in die Tiefe fallen. Er ist da, wo uns unser eigenes Gewissen verrät.

So ist der Karfreitag auch unendlich tröstlich: Gott ist da, wo wir uns von ihm unendlich getrennt fühlen. Wer sich wiederfinden möchte mit seinen Schwächen, seiner Zerbrechlichkeit, seiner Schuld, seiner Todesfurcht, seiner Einsamkeit, der kann diesen Jesus von Nazareth am Kreuz anschauen und wird einen Verwandten finden. Es ist ein alter und kühner Gedanke des christlichen Glaubens, dass eigentlich ich selbst der Gekreuzigte hätte sein müssen, aber da ist jemand anderes an meiner Stelle. Deshalb nennt Martin Luther den Christus am Kreuz meinen „Todfresser“.

Wenn ich sterbe, was wird dann sein? Dann wird Jesus vor Gott stehen und mich vor mir selbst schützen und vor meinen Dunkelheiten. Und er wird zu Gott sagen: Für seine Auferstehung habe ich bezahlt, lass ihn mir nachfolgen. Und Gott wird sagen: Zieh ihn hinter dir her, lass ihn nachfolgen, lass ihn auferstehen, du hast es ihm am Karfreitag verdient, zieh ihn aus dem Tod, sei sein Todfresser. Und wirf seine Sünden weit hinaus ins äußerste Meer.

Die Engländer nennen den Karfreitag seltsamerweise „Good Friday“! Vielleicht haben die immerhin hier mehr verstanden als wir.

Ihr Dr. Andreas Crystall, Propst in Dithmarschen

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